Packrafting

Unzählige Wasserstraßen prägen das Stadtbild Hamburgs. Mit einem minimalistischen Rucksackboot und eigener Muskelkraft gelingt ein frischer Blick auf die Fassaden der Hansestadt. Eine amphibische Mikroreise zu Fuß und per Packraft, von der Alster in die Elbe. Schietwetter inklusive.

Mit Tempo senkt sich der Wasserfahrstuhl. Die Spundwände werden länger und länger. Es tropft und plätschert, nach und nach verhallt die Stimme des Wärters an der Schleusenmauerkante. Drei monströse Pumpen arbeiten nur für mich. 20 Minuten lang. Dann kommt die Welle.

Ein paar Stunden zuvor. Eine Mischung aus hanseatischer Gelassenheit und verwundertem Blick schwingt mit, als es im Flur der Schaartorschleusen-Schaltzentrale heißt: „Klar kannste hier schleusen, dafür sind wir doch da!“ Das Hamburger Tor zur Elbe wird für jedes passende Seegefährt aufgemacht. Auch wenn es nur ein kleines, gelbes Paddelboot ist. Die entspannte Haltung des Schleusenwärters, seit 46 Jahren im Amt, lässt nicht nach, als es um das geht, was einen beim Übergang vom Alster- ins Elbwasser erwartet. „Die Elbe hat gerade sechs Meter pro Sekunde, die Fahrrinne würde ich lieber links liegen lassen“, sagt er, als spräche er über den Umrührvorgang bei der Zubereitung eines Käsekuchens. Und ergänzt mit zuversichtlichem Ton: „Du bist gleich mit deinem kleinen Gummiboot Teil der Seefahrt. Wenn du Hilfe brauchst, bekommst du sie. Halt einfach einen Tampen hoch, dann kommt schon jemand. Machen in Not geratene Barkassenkapitäne auch.“ Ich muss, inzwischen leicht nervös, an die zarte Reepschnur denken, die ich heute morgen noch schnell in den Rucksack gestopft habe. Und an die geringen Sichtweiten des Hamburger Schmuddelwetters. Das Kopfkino über die Sinnhaftigkeit dieses Mikroabenteuers verwischt dann aber der Blick auf den Gezeitenkalender. Handlungsdruck hilft. Die Zeit ist knapp. Jeweils kurz vor und nach dem höchsten Tidenstand der Elbe seien die besten Zeitpunkte fürs Schleusen! Ich tippe mir noch schnell die Telefonnummer des Experten ein und laufe los.

Eine gute Stunde ist es zu Fuß zur Außenalster. Auf dem Rücken trage ich in einem wasserdichten Tagesrucksack das, was mich gleich übers Wasser bringen soll. Beim Gang durch den heute grauen Grüngürtel Hamburgs, Planten un Blomen, gehe ich das Gepäck noch einmal durch. Vierteiliges Doppelpaddel, Schwimmweste, aufblasbarer Sitz, Tampen, Blasesack und eben das Packraft: ein auf das Volumen einer handelsüblichen Ananas zusammengerolltes Gummiboot. Leergewicht: schlappe 1.600 Gramm. Das Anfibio Delta MX, das mir die Crew des Leipziger Packrafting-Store aus ihrem Verleihpool zugesendet hat, misst im Innenbereich stolze 140 mal 42 Zentimeter. Genug, um bequem die Beine auszustrecken. Packrafting sei so etwas wie die Sommervariante des Skitourengehens, lese ich im Vorfeld der Tour. 
Der späte Februartag ist mein Sommer. Für ein kleines Abenteuer mit Land-Wasser-Kombi braucht es nicht viel Vorbereitung, keine gigantische Packliste, kein Auto mit Gepäckträger. Und kein Kaiserwetter. Dachte sich auch Sir Peter Halkett. Der Leutnant der britischen Navy gilt als Erfinder der Urform des heutigen Packrafts. Um 1840 tüftelt der Hobbyerfinder an einem leichten, aufblasbaren Boot für den Einsatz im gemischten Terrain. Ein wasserdichter Mantel ist dabei gleichzeitig die ei-förmige Hülle seines Gefährts. Seine 15-Kilometer–Jungfernfahrt auf der Themse vier Jahre später hält allen Erwartungen stand. Aufgepumpt in drei bis vier Minuten, fortbewegt durch ein Paddel, das an Land als Wanderstock fungiert, sowie einem aufgespanntem Regenschirm als Segelfläche, der beim London-spaziergang den Niesel fernhält. Es folgen Einsätze anderer Luftbootkapitäne im Anschluss an gescheiterte Expeditionen in der kanadischen Arktis. Das erste Packraft der Geschichte wird zum mobilen Rettungsboot bei der Suche nach Vermissten.

Die robusten Eigenschaften der heutigen Generation an Booten zeigen sich bei Touren durchs Wildwasser. Die Entwicklungen von schützenden Spritzdecken, moderne Bootsformen und widerstandsfähigen Polyurethanhäuten machen deutlich, warum der Wortteil Raft verwendet wird. Wildes Wasser aber ist nicht zwingend notwendig. Die Außenalster ist heute sanftmütig. Eine nahezu glatte Wasseroberfläche, so weit das Auge durch das Trübe blicken kann. Das Anfibio ist nahe der kargen Trauerweide mit dem Blasesack schnell in Form gebracht. Das Schraubventil des dünnwandigen Nylonbeutels wird einfach auf das Packraft gedreht, eine simple wie schnelle Alternative zu Blasebalg oder Handpumpe. 

Luft mit einigen fächernden Bewegungen durch die große Öffnung einfangen, Sack schnell schließen und mit etwas Druck auf den Beutel in die Kammern drücken, so die Beschreibung. Die finale Formstabilität erledigt das Lungenvolumen. Klingt einfach und nach etwas anfänglichem Koordinierungswirrwarr ist es das auch. Ich bin fast so fix wie Sir Halkett Mitte des 19. Jahrhunderts.

Rein ins Boot und los. Der fast leere Rucksack ziert nun festgezurrt die Bugwulst. Die ersten Paddelschläge setze ich im Duell mit einer Stockente in Richtung Kennedy- und Lombards-brücke. Und durch den dünnwandigen Bodenstoff arbeiten sich die knappen sechs Grad Wassertemperatur. Das Packraft ist überaus drehfreudig. Aber deutlich gleitärmer als ein Kanu oder Ruderboot. In Letzteren sitzen die Einzigen, die ebenfalls dem Wetter trotzen – sieht man mal von der Joggerparade am Ufer der Außenalster ab. Unter einem ratternden ICE gleite ich in die Binnenalster, dem kleineren Teil des Alstersees.

Am Jungfernstieg trage ich um, auch wenn die Weiterfahrt in die sogenannte Kleine Alster möglich wäre. Es ist angesichts des leichten Gepäcks ein so simples Manöver: Einfach die seitliche Gummiwulst unter den Arm schnallen, das Paddel in die andere Hand und weiter geht es zu Fuß. Hinter der Rathausschleuse will ich meine Reise weiterführen. Der Wiedereinstieg in die Alsterfleet aber gestaltet sich herausfordernd. Die gemauerten Uferwände sind zu hoch und das Wasser zu kalt, um ein waghalsiges Einsetzen zu riskieren. Eine kleine Treppe am Steigenberger ist meine Rettung. Der Hotelpage hebt durch die Scheibe motivierend den Daumen, auch sonst sind viele Reaktionen der Einheimischen lobenswert. Ein „Na, willste nach Helgoland?“, lasse ich sprachlich unkommentiert, setze stattdessen einen tollkühnen Blick auf.

Zurück in der Kammer. Nach Helgoland würde es tatsächlich genau in diese Richtung gehen. Mir aber reicht eine Stippvisite im Elbebrackwasser. Es weht ein anderer Wind, als sich das Tor der Schaartorschleuse öffnet. Den Wellengang meistert der kleine Kahn souverän. Konzentriert halte ich mich nahe der Uferbefestigungen. Werfe einen Blick Richtung Speicherstadt. Ja, bei etwas weniger Wellengang, mit ein paar weniger Regenschauern wäre das ein lohnenswertes Ziel – heute genügt ein Selfie an der Elphi. Den Blickwinkel auf das imposante Konzerthaus nahe der Kehrwiederspitze am westlichen Rand der Hafencity habe ich heute fast exklusiv. Eine einsame Barkasse mit dem Namen „Peter“ kutschiert ein paar Touristen durch den Hafen. Der Kapitän umkurvt mich schwungvoll-ambitioniert. Noch einmal stelle ich mich kurz vorm Ausstieg am Feuerschiff-Steg mutig den aufkommenden Wellen entgegen. Einen Tampen muss ich heute nicht hochhalten.

„Halt einfach einen Tampen hoch, dann kommt schon jemand. Machen in Not geratene Barkassenkapitäne auch.“

Weitere Infos:


Erstes Schnuppern: Der Leipziger Packrafting-Store bietet eine große Auswahl an Equipment zum Kauf und Verleih sowie Kurse und Stadtführungen zu Wasser. Die zwei- bis dreistündige Packrafttour beispielsweise führt am 6. und 7. Mai durch das Wasser des Leipziger Stadtgebiets. Weitere Infos unter www.packrafting-store.de

Nachlesen:
Der Blog www.packrafting.de informiert über Touren, Tipps und Philosophie der Packrafting-Szene.

Weitere Touren in Hamburg:
Alsterkanäle und Außenalster: Vorbei an Villen und Gärten in Winterhude und Eppendorf.
Bootsverleih: www.bobbyreich.de (Außenalster), www.bootshaus-silwar.com (Alte Alster),
www.bootsvermietung-dornheim.de (Osterbekkanal)

Vier- und Marschlanden:
Auf den Nebenarmen der Elbe, Gose und Dove. Ländliches Hamburg, gut für Anfänger, da kaum Strömung oder Stromschnellen. Bootsverleih: www.paddel-meier.de (Kirchwerder)

Auf der Bille bis Reinbek: Wiesen, Gehölze, geringe Strömung, gute Picknickmöglichkeiten. Bootsverleih: www.bootshaus-bergedorf.com (Bergedorf)
Fotos: Fridtjof Stechmann