Koordination mit Pedalkraft


Drei gegen drei nach Feierabend. Bikepolo ist der Gegenentwurf zu weiten, teuren Reisen auf steile, hohe Berge. Der Funsport ist schnell erlernbar, kostengünstig und spontan vor fast jeder Haustür möglich. Und sorgt für einen frischen Anstrich auf den versiegelten Flächen der Stadt.


Die Restsonne liegt schwer über dem Hafen von Kiel und hüllt die Stadt in ein glänzend-orangerotes Licht. Gestresste Büromenschen und abgekämpfte Hafenarbeiter hetzen mit Höchstgeschwindigkeit Richtung Feierabend, während die Laptop-im-Café-Fraktion dazu nur lässig am Karamell-Crème-Vanilla-Frappuccino nippt. Es ist ein schöner, lauer Abend, wahrscheinlich einer der letzten warmen Abende des Jahres. Und trotzdem haben sich nahezu alle Fußgänger von Kopf bis Fuß in ein Ensemble verschiedenster Grautöne eingeschnürt. Anscheinend aufgrund dessen, dass der Kalender schon so langsam Herbst anzeigt. Ich richte meinen Blick schnell zurück aufs Wasser. Bei all dem Trott und Alltagsstress wäre es doch mal wieder Zeit für ein wenig frischen Wind an der See.

Den viel zu langen Rotschaltungen sei Dank, hatte mich vor einigen Tagen ein Aufkleber an einem Ampelpfahl darauf aufmerksam gemacht, dass in der maritimen Metropole eine Untergrundbewegung aktiv ist. Rebellen gegen das Establishment, gegen Normen und Konventionen, vor allem aber gegen die herkömmlichen Formen des Radfahrens. KFX – Kiel Fixed ausgesprochen, wenn man cool genug ist. Gezielte Recherchen in der heimischen Mühle ergaben, dass sich die Truppe nach ihren Ausritten auf dem Fixed Gear einer noch weitaus exotischeren -Beschäftigung hingibt: Polo. Ohne Pferd, mit dem Fahrrad, und überall dort, wo der Ort gerade günstig erscheint. Ein Lichtstrahl im dunklen Raum zwischen Herbstdepression, Langeweile und Eintönigkeit? Sicherlich kein schlechter Anfang. Zeit für mich, den Jungs mal einen Besuch abzustatten. Ich betrete den Parkplatz eines der großen Schiffsterminals.

Ein V-Mann hat mir verraten, dass dies ein beliebter Spot der Polocrew sei und ich heute gute Chancen hätte, fündig zu werden. Der Velo-Mann hatte seine Arbeit gut gemacht, schon von Weitem entdecke ich eine Gruppe Radfahrer, die scheinbar wahllos, aber überraschend schnell, enge Kreise zieht. Als ich näherkomme, erkenne ich die Details. In einem Abstand von etwa 20 Metern sind zwei kniehohe Tore aufgestellt, in welche die Fahrer – drei pro Team – mit gezieltem Einsatz ihrer Plastikschläger einen bunten, apfelsinengroßen Ball zu versenken versuchen. Ich stelle mich an den nicht genauer definierten Spielfeldrand und beobachte einige Techniken und Taktiken.
Ähnlich dem Bonzenspiel auf Gäulen ist auch Bike-polo ein Teamsport und verlangt gleichermaßen eine geschickte Schläger-Rad-Koordination wie ein aus-geprägtes Gespür für die Mitspieler.

Angriff – abgewehrt – Gegenangriff – Steilpass vors Tor – Querpass – Pock! – Tor!

Ein Spielzug wie aus dem großen Bilderbuch der guten Spielzüge. Der Schlusspfiff besiegelt den Endstand von drei zu zwei. Zahlreiche High Fives und ein paar knappe Spielanalysen später haben sich die Jungs um ihren Zaungast versammelt. Das Interesse von Passanten an dieser neuartigen Beschäftigung sei enorm, erzählen sie mir augenzwinkernd, und als ich mich umdrehe, sehe ich tatsächlich ein Grüppchen Leute mit sicherem Abstand das Schauspiel beobachten. Aber wie kommt man auf die schräge Idee, sich mit einem selbstgebauten Plastikschläger aufs Fahrrad zu setzen und einem Ball hinterherzufahren? Eigentlich seien sie ja alle eingefleischte Fixiefahrer, erklärt mir André, einer der Geburtshelfer des Kieler Bikepolos. Dem generellen Drang, doch noch mehr machen zu müssen, als mit dem Fahrrad schnell geradeaus zu fahren, folgte ein Austausch mit Fahrern aus anderen Teilen Deutschlands und der Welt; natürlich half auch – wie schon so oft – das Internet bei der Inspiration. Beinahe alle Befragten kamen auf ein Ergebnis: Bikepolo. Neu, anders, kurzweilig, ein herzerfrischender Spaß. Kurz: die Lösung.

Die Idee wurde konkreter und wahrscheinlich schon am darauffolgenden Tag stürmte der kleine Kreis aus gerade mal vier Fahrern mit Streethockeyschlägern auf Wasserflaschen-Tore. Seit diesem verhängnisvollen Tag haben sich zwar Equipment und Spieltechnik verbessert und neue Spieler sind hinzugekommen, die Philosophie ist jedoch dieselbe und der Spaßfaktor gibt immer noch den Ton an. So ähnlich der gemeinsame Hintergrund der Fahrer, so verschieden sind die Polobikes. Ein altes Marin-Mountainbike trifft auf ein Rennrad mit Singlespeed-Umbau, ein über und über mit bunten Stickern beklebter Rahmen trifft auf ein glänzendes Fixie. Erlaubt ist, was gefällt, Hauptsache Rad und Radler sind sicher unterwegs.

Um auf dem Court richtig Gas geben zu können, muss das Bike einige spezielle Features aufweisen, weshalb auch fast jeder ambitionierte Polo-dude ein extra Polorad sein Eigen nennt. Das wohl wichtigste Detail daran ist die superleichte Übersetzung, die ein kontrolliertes Fahren ermöglicht und garantiert, dass man auch bei niedrigsten Geschwindigkeiten nicht ins Wanken gerät. Tuning gehört zum guten Ton. Alle nicht zwingend zum Fahren oder Polospielen benötigten Teile kommen ab. Doch anstatt die großen Felgen vor dem Spiel noch schnell auf Hochglanz zu polieren, werden diese häufig abgeklebt. Schließlich gilt zu vermeiden, dass sich der Schläger in den Speichen verheddert oder der Ball das Laufrad beschädigt. Auch der Ghettoblaster im Lenkerkorb muss für einen deutlich schmaleren Lenker weichen. Den Schlägern gilt besondere Aufmerksamkeit, da sie von vielen Polospielern selbst angefertigt werden. Was man dafür braucht? Im Grunde reicht ein Rohr als Schlägerkopf, ein Stiel als Stiel, Säge, Feile, Zeugs zur Verarbeitung und Heimwerker-Grundkenntnisse zum Angeben. Wer sich der Herausforderung nicht gewachsen fühlt, kann sich vertrauensvoll an die Polojungs oder das Internet wenden. Die rohrförmige Form des Schlägerkopfes ist mit Bedacht ausgewählt. Mit der breiten Seite kann man den Ball am besten führen, Tore dürfen nach internationalem Bikepolo-Regelwerk nur mit der schmalen Seite erzielt werden. Nach Feierabend sei dies allerdings „nicht mehr verbindlich“. Hat man all diese Schritte befolgt, kann man endlich seine eigene Partie Bikepolo spielen. Die wichtigsten Regeln besagen, ein Spiel dauert zehn Minuten und bei unabsichtlichem Fußabsetzen muss eine Strafrunde gefahren werden.

Mancher könnte an dieser Stelle schlussfolgern, dass eine Zwittersportart wie diese bestenfalls eine Errungenschaft der außerordentlich kreativen 2000er-Jahre sein könne … siehe Hochhausgolf, Hüpfburgvolleyball oder Neonbadminton bei Nacht. Irrtum. Ein Blick in die Geschichtsbücher offenbart eine ereignisreiche Vergangenheit. In Kurzform: Vor über 100 Jahren in Irland erfunden, zwischenzeitlich sogar olympische Disziplin (1908, bei der Olympiade in London, muss sich die deutsche Auswahl im Finale gegen die irren Iren mit eins zu drei geschlagen geben), danach setzte sich die Bikepolo-Bewegung recht bald auf allen Kontinenten durch, schaffte es allerdings nie in die Riege der klassischen, etablierten oder finanziell stark unterstützten Sportarten. Aber dennoch, Bikepolo als klassische Sportart? Das wollte keiner der Polojungs. Randerscheinungen haben schließlich auch ihre reizvollen Seiten.

Text: Sebastian Kleinschmidt
Fotos: Andreas Sawitzki