66° 33′ 55“

Warum das strategische Setzen eines Datums ein Abenteuer wirklich starten lässt und was den Unterschied macht zwischen guten und weniger guten Vorbereitungen. Der Report über einen Roadtrip von Berlin zu den Lofoten. Im Winter. Um am Nordpolarkreis zu surfen.

Was für eine schön-beknackte Idee. – Das ist die letzte Mail, die uns noch auf der deutschen Autobahn Richtung Kiel zur Göteborg Fähre von einem Freund erreicht. Und während wir mit durchschnittlichen 90 Stundenkilometern in unserem spärlich ausgestatteten Sommer-WoMo über den Asphalt gleiten, hören wir Truckermusik, albern vor Vorfreude herum wie kleine Kinder im Bälleparadies und verschmelzen immer mehr mit dem Singsang der Straße.

Aber von Anfang an: Wir, das sind Sepp und Rich. Zwei gewöhnliche Landlocked-Surfer aus Berlin. Im normalen Leben arbeiten wir für Werbeagenturen. Sepp als Fotograf und ich als Stratege beziehungsweise Konzeptioner. Vor rund einem Jahr hatten wir die Nase voll von dem ewigen Hamsterrad und dem unendlichen Verbrennen persönlicher Energie für die nächste revolutionäre Pizzakampagne. Wir waren – und sind es immer noch – auf der Suche nach dem, was das Leben wirklich ausmacht. Abenteuer! Raus aus der Komfortzone. Erinnerungen, die ein Leben lang bleiben und die eine wirkliche Bedeutung haben.

Dann irgendwann im Oktober 2016 war sie da. Die „schön-beknackte Idee“. So ganz genau erinnern wir uns nicht mehr. Irgendwann zwischen verzweifeltem Versuch, dem Berliner Müggelsee eine Kitesession bei böigem Wind abzugewinnen, und anschließendem Tankstellen Frustbier. „Lass uns einen Roadtrip zum Nordpolarkreis machen und dort surfen gehen. Im Winter! Bali kann jeder!“ Klingt verrückt, und das ist es auch. Aber gerade deshalb auch so charmant. Zwei Bier später war der 1. Januar 2017 als Abreisedatum gesetzt. Die Vorbereitungszeit war knapp und wir, als Amateurabenteurer, nicht wirklich erprobt für das, was uns bevorstehen würde.

Von Kiel per Fähre nach Göteborg und dann über Oslo und das norwegische Gebirge bis nach Trondheim. Von da aus eigentlich fast ein Katzensprung bis nach Bodø, was auf derselben Höhe wie der südlichste Zipfel der Lofoten liegt und auch gleichzeitig so ungefähr den Nord-polarkreis markiert …

Und so sitzen wir hier leicht verkatert am Silvestermorgen in unserem völlig überladenen, fahrbaren Untersatz, der für die nächsten Wochen unser sicheres Zuhause gegen die arktischen Stürme und Kälte sein soll.

Zwei Elf-Liter-Gasflaschen, ein Satz Schneeketten und ein Klappspaten sind alles, was wir dem norwegischen Winter entgegenzusetzen haben.

Die 17-stündige Überfahrt nach Göteborg ist eher langweilig. Zwischen Bord Bingo und Einarmigen Banditen versuchen wir die Zeit irgendwie totzuschlagen. Und entwickeln in der Zwangspause lustige Fotoideen, die wir dann zur Belustigung der Mitreisenden auch in die Tat umsetzen. Das Wasser zum Greifen nah, sind wir zwar nicht mehr landlocked, aber boatlocked. Unsere Gelassenheit sollte sich jedoch schnell ändern.

Über die gut ausgebaute E6 geht es schnell bis nach Oslo. Freie Straßen und teure Tankstellen gefühlt an jeder Straßenkreuzung machen es uns einfach. Dort treffen wir uns mit Alex, einem alten norwegischen Freund. Mit seiner Hilfe wollen wir die beste und schnellste Route Richtung Norden finden. Unseren Plan, dem Folgefonna Gletscher auf unserem Weg einen Besuch abzustatten und in der Nähe die eine oder andere Snowboardsession im norwegischen Powder abzureiten, können wir direkt vergessen. Alex machte uns klar, dass in Oslo zwar noch nicht so viel Schnee liegt, aber oben in den Bergen in den letzten Tagen mehr als acht Meter runtergekommen seien. Und die Vorhersage sollte noch mehr Schnee bringen. „No way with your camper van …“ Und schließlich siegt dann auch bei uns die Vernunft. Wir beschließen, weiter auf der E6 zu bleiben. Die führt auch bis nach Bodø zum Nordpolarkreis und vielleicht wird uns die vermeintliche Bundesstraße sogar noch etwas schneller zum Ziel bringen. Uns bleibt noch eine Nacht in der Zivilisation, bevor es dann ernst wird.

Schon als wir am nächsten Tag aus dem Speckgürtel Oslos raus sind, dämmert uns langsam, was wir auf den nächsten 6.000 Kilometern zu erwarten haben. Was wir als Zentraleuropäer gemeinhin als Bundesstraße kennen, ist in Norwegen oftmals nicht mehr als eine sich an Bergmassiven windende Straße, die auch gern mal mehrere Hundert Meter Höhenunterschied mit sich bringt. Im Sommer vielleicht idyllisch. Im Winter allerdings eine einzige, nicht enden wollende Eispiste.
Einmal auf der Straße gibt es kein Zurück mehr. Räumfahrzeuge so groß wie ein Reihenmittelhaus haben den gefallenen Schnee der letzten Wochen meterhoch an den Straßenrand gedrückt, was ein Abfahren oder selbst einen kurzen Stopp in einer Parkbucht unmöglich macht. Kurven fahren wir ausschließlich im Drift und fühlen uns wie in einer riesigen, schlitternden Achterbahn. Alex sollte recht behalten. Es schneit ununterbrochen. Vorbei ist die Gelassenheit. Willkommen im Abenteuer außerhalb der Komfortzone.

Die nächste Woche erleben wir wie in Trance. Ein Tag gleicht dem anderen. 200 Kilometer Strecke ist in etwa das Tagespensum, was wir leisten müssen. Und je nördlicher wir kommen, desto schlimmer werden die Bedingungen. Mehr Schnee, mehr Eis, mehr Kälte, schlechtere Straßen und so langsam verabschiedet sich auch das Tageslicht. Ein wenig Helligkeit gibt es ab 10.30 Uhr morgens und um 14.30 Uhr ist es schon wieder stockdunkel. Trotz Heizung wärmt sich das Wohnmobil nicht mehr auf und die einzigen ruhigen Momente gibt es am späten Abend, als wir todmüde, mit Mütze und Winterkleidung, in unsere Schlafsäcke kriechen. Das Fahren am Tag ist eine Mischung aus unendlicher Quälerei und ständiger Angst. Aber irgendetwas treibt uns trotzdem weiter Richtung Norden.

Nach etwa zehn Tagen dunkler Eispiste stehen wir vor dem magischen Pass, der uns über den Polarkreis bringen soll. Hier ist aber erst mal Schluss. Der Pass ist gesperrt. Wir müssen bis zum nächsten Morgen warten, wo wir und die wenigen anderen gestrandeten Lkw mit einem Begleitfahrzeug der norwegischen Straßenwacht über den Pass geleitet werden. Alle anderen Fahrzeuge waren mit Spikes ausgestattet und während wir noch unsere Schneeketten suchen, geht es auch schon los. Keine Zeit für Schnickschnack, sagt man uns, und als Sebastian und ich wie ein altes Ehepaar im Wohnmobil über die Schneeketten streiten, sind wir auch schon drüber. Ein kleines, schneeverwehtes Schild markiert den Punkt, der für uns in den letzten Tagen ein manisches Ziel geworden ist. 66° 33′ 55“. Wir haben es geschafft.

Zwischen uns wird es still. Überglücklich und mit Tränen in den Augen folgen wir dem Autokorso durch die schneeverwehte, weiße Landschaft, die zusätzlich im Nebel versinkt. Unwirklicher kann ein Ort auf dieser Welt nicht sein und wir sind mittendrin. Zwei Normalos aus Berlin, im Winter am Nordpolarkreis. In uns macht sich jetzt eine gewisse Routine breit. Viel schlimmer kann der Rest der Reise nicht werden, denn die erste Etappe – die Überquerung – haben wir geschafft. Der zweite Teil, das Surfen am Nordpolarkreis, liegt aber noch vor uns.

Bis nach Bodø an der Westküste geht es dann schnell. Durch die Nähe zum Golfstrom wird es etwas wärmer. Leider hat das aber keinen Einfluss auf die Wettersituation. Nach Eis und Kälte folgen jetzt Graupelschauer und Schnee, die sich zu einer unberechenbaren Pampe vereinen. Die Angst fährt weiterhin mit.

In Bodø treffen wir am Flughafen Mario Rodwald. Mit dem dreimaligen Kitesurf-Europameister haben wir uns im Vorfeld für eine Woche in Nordnorwegen verabredet. Ein kurzes „Hallo“, ein schnelles Checken der Windvorhersagen und innerhalb von 30 Minuten sitzen wir auf der nächsten Fähre Richtung Lofoten. Mitten im Arktischen Ozean warten dort die besten Voraussetzungen.

Die Überfahrt ist rau, am nächsten Tag wird aufgrund der Vorhersage sogar der Fährbetrieb eingestellt. Und genauso präsentieren sich die Lofoten zu einer Jahreszeit, in der selbst Einheimische kaum das Haus verlassen und Touristen schon gar nicht ihren Weg in die zerklüftete Landschaft finden. Jede Sekunde ist atemberaubend. Die surreale Landschaft, das Spiel der Wellen und der sich ständig drehende Wind. Wir selbst werden Teil der Naturgewalt und verschmelzen mit dem unendlichen Grau unserer Umgebung. Nichts ist planbar. Alles abhängig vom Wetter. Wir sind wie Astronauten, die in ihrem kleinen Habitat den Bedingungen trotzen.

Trotz der guten Vorhersagen ist die Surfausbeute bescheiden. Wir durchqueren die Lofoten an der Westküste, immer auf der Suche nach guten Spots. Aber selbst ein mehrmaliger Europameister und erst recht natürlich wir kommen an unsere Grenzen. Nach 30 Minuten im Wasser werden Hände und Füße taub. Unsere Muskeln ziehen sich zusammen und fangen an zu krampfen. Selbst die dickste Neoprenschicht hilft nicht mehr. Die Strömung ist unendlich stark und eine Seenotrettung im Fall der Fälle einfach undenkbar. Ein Fehler und das Meer hätte uns Tausende Meilen bis nach Grönland gespült.

Trotzdem surfen wir den Polarkreis. Wir alle. Nicht so, als hätten wir einen fabelhaften Tag auf Bali. Keine Endlossessions im kristallinen Wasser, sondern schwarze, rauschende Wände im Dämmerlicht. Wir gehen dabei über unsere Grenzen, überwinden die Angst und stellen uns der Natur. Wir sind jetzt Arctic Surfers. So ähnlich, als wenn man mit einem Kreuzfahrtschiff den Äquator überquert und eine Touri-Taufe bekommt. Keine Medaille, keine Erwähnung, aber wir wissen, dass wir es gemacht haben. Und neben uns nur eine Handvoll anderer Menschen auf diesem Planeten.

Nach einer Woche voller fantastischer Eindrücke mit Mario setzen wir ihn wieder in Bodø ab. Für uns steht jetzt die Rückreise an. Zurück nach Berlin sollte es einfacher gehen. Einmal quer von Norwegen nach Schweden und dann von Nord nach Süd durch Lapland. Straßentechnisch ist Schweden besser bestellt als Norwegen, aber wir haben die Rechnung ohne den Sprit gemacht. Die Straße ist in der Tat einfacher zu fahren, aber nicht bei diesen Temperaturen. Bei minus 25 Grad friert der Diesel im Tank ein. Nach all den Strapazen bis hierher ein absolutes Desaster. Wir stellen die Heizung auf ein Minimum, sparen Strom und stellen uns gedanklich auf das Schlimmste ein. Nach nicht enden wollenden acht Stunden des Wartens kommt dann endlich ein Abschleppwagen. Die Zwischenzeit fühlte sich an wie ein Überlebenskampf in der Kälte mitten im Nirgendwo. Nach einer Zwangspause im Hotel und einem neuen Dieselfilter schaffen wir es bis nach Malmö und dann zurück bis nach Berlin.

Was bleibt? 6.500 Kilometer Eispiste, 35 Stunden Fähre, vier Länder, Blizzards, Lawinen, Schneestürme, Kälte und ewige Dunkelheit. Erinnerungen an eine unsagbare Zeit. Wir haben mit dem, was wir gemacht haben, unserem Leben etwas mehr Bedeutung gegeben. Seitdem wir zurück sind, sehen wir viele Dinge aus einer anderen Perspektive. Wir versuchen jeden Tag so intensiv wie möglich zu gestalten, sehen unsere Umwelt mit anderen Augen und merken, dass es mit uns auf Dauer in unserer alten Welt nicht funktioniert. Wir sind infiziert. Und wir wollen mehr. Mehr von dem, was da draußen auf jeden von uns wartet. Der Körper ist zurück, aber die Seele ist immer noch dort oben im Norden.

 

Infos:

E6 von Göteborg nach Oslo: Es gibt unzählige Tankstellen. Der Snack zwischendurch: Pølser! Als Nordic-Wannabe sollte man unbedingt vermeiden, seinen Hotdog mit Messer und Gabel zu essen. Das ist ein No-Go in Skandinavien. Dass man sich vollkleckert, ist anfangs völlig okay. Denn schließlich muss man sich immer mehr Sauce drauf machen, als eigentlich passt. Ist ja kostenlos.

Oslo – Trondheim – Bodø: Die Richtung Norden fahrenden LKW-Ungetüme sind 50 Tonnen schwer und erinnern an riesige Fahrzeuge aus dem Tunnelbau. Sie sind definitiv die Könige der Straße. Es ist unglaublich, wie schnell sie auf eisigen Straßen über Gebirgspässe peitschen. Allein die Luftverwirbelung beim Vorbeifahren kann einen schon mal einen Meter weiter nach rechts drücken. Manchmal gibt es Leitplanken. Als Beifahrer sollte man hartgesotten sein.

Fähre Bodø – Moskenes (Lofoten): Die drei, vier Stunden Überfahrt sind im Winter nichts für nervöse Mägen. Sobald das Schiff aus dem ruhigen Hafen auf die offene See zusteuert, wird es ungemütlich. Nicht selten braucht man die komplette Breite des Gangs. Wer nicht seefest ist, sollte sich lieber am Heck aufhalten. Dort schlingert das Schiff weniger als am Bug. Das kulinarische Angebot, insofern der Magen es zulässt, ist überschaubar. Krabbenbrötchen für zwölf Euro, Formfleisch-Burger mit Pommes für 16 Euro. Oder eben Pølser.

Lofoten: Die Halbinsel ist im Winter menschenleer. Selbst Einheimische verlassen in den dunklen Monaten die abgelegenen Häuser und überwintern südlicher. Durch die zerklüftete, von Wasser umspülte Landschaft wurden sichelförmige Rundbrücken von Ufer zu Ufer gebaut, die nur einseitig befahrbar sind. Bei eisiger Straße empfiehlt es sich, bereits vor der Auffahrt auf die Brücken Schwung zu nehmen. Aber Achtung: Wenn man einmal oben ist, muss man auf der anderen Seite auch wieder runter.

Strimasund (Lappland): Tante-Emma-Laden und Hinweisschild markieren die Grenze zwischen Norwegen und Schweden am Nordpolarkreis. Keine Spur von Grenzkontrollen. Es ist ein wenig seltsam, in der Einöde links und rechts der Straße die vielen Spuren im Schnee zu sehen. Aber hier oben sind Motorschlitten oft das angebrachteste Mittel, um schnell mal den Einkauf zu erledigen. Daher nicht wundern, wenn irgendwo abgelegen einsame Autos geparkt sind. Deren Fahrer sind oft nur umgestiegen.

Ajaureforsen: In Zentral-Lappland klettern die Temperaturen meist nicht über minus 25 Grad, mit noch frostigeren Nächten. Fahrzeugmotoren werden entweder gar nicht erst ausgeschaltet und laufen auch nachts durch oder sind an einer speziellen Heizung angeschlossen. Wer einen Diesel hat, kann schnell ein weiteres Problem bekommen: Der Sprit friert ein – selbst bei -laufendem Motor. Einheimische mischen daher Normalbenzin hinzu – im Verhältnis eins zu zehn. Das verhindert das Flocken.

Text: Richard Fieseler
Fotos: www.sehnsucht-berlin.com