Irlands Wilder Westen
Auf der Grünen Insel laufen Uhr und Kompass anders. Aus sechs Wochen werden schnell neun und Roadtrip ist, wenn du von Schafen geweckt wirst, die sich morgens an deiner Stoßstange schubbern.
Steile Klippen, zerklüftete Küsten, saftige Wiesen. Nirgends ist der Kontrast zwischen rau und sanft so eng beieinander wie in Irland. Das verspricht uns zumindest der Reiseführer. In den nächsten Wochen sollen der Wild Atlantic Way, der sich auf rund 2.500 Kilometern im Westen der Insel am Meer entlangschlängelt, und unser Bus unser Zuhause sein. Der Plan: kein Plan. Sechs Wochen Zeit, keine festen Ziele, wandern, surfen, einfach Entspannung pur. Bis wir an dem Punkt ankommen, an dem das Genießen beginnt, dauert es allerdings noch. Was wir bisher bekommen haben, sind knappe zehn Stunden Autofahrt bis Nordfrankreich, eine überfüllte Fähre von Calais nach Dover, wieder sechs Stunden Autofahrt direkt nach Liverpool, von dort über Nacht und Wasserweg nach Dublin. Und dann: warten. Nach den mittlerweile fast 27 Stunden ohne Schlaf ist der ohnehin weitervererbte Reiseführer noch unansehnlicher und fast auswendig gelernt. Lustloses Blättern, bis sich der Bug des Schiffs öffnet, es geht endlich weiter. Unser Bus schießt von Board, als könnte er es selbst kaum erwarten, endlich irischen Boden unter den Rädern zu haben.
Das kleine Abenteuer beginnt.
Irgendetwas drückt sich penetrant in meine rechte Gesichtshälfte. Resigniert öffne ich das linke Auge. Auf den letzten Metern hat mich als Beifahrerin der Schlaf doch noch übermannt. Aber der Anblick von blassblauem Himmel mit rosaroten Wölkchen weckt die Lebensgeister. Mit dem Abdruck der Anschnallaufhängung auf der Wange komme ich an dem Ort an, den die Google-Suche bei Surfspots als Erstes ausgespuckt hat: Strandhill. Ein Glückstreffer. Der Zahn, dass Wildcampen in Irland theoretisch nicht erlaubt ist, wird uns sofort gezogen. Die Praxis zeigt vom ersten Tag an: Es ist den Iren ziemlich egal. Mehr noch, wir werden überall willkommen geheißen. Einsamer Stellplatz direkt am Strand, am See im Tal oder auf einer Klippe, alles kein Problem. Wir streifen im County umher, fahren für einige Tage hoch nach Bundoran, aber die kleine Siedlung wird in den ersten beiden Wochen immer wieder Rückzugsort. Uns drängt es einfach noch nicht weiter. Das Leben wirkt hier so einfach. Nach einigen Tagen pendelt sich ein Rhythmus ein. Morgens Schiebetür auf: dicker Nebel und leichter Regen. Erst mal zum Frühstücken ins Café Shells direkt vorn am Wasser in Strandhill. Internet, frisch gebackenes Brot aus der eigenen Backstube, ein kleiner Shop mit regionalen Produkten. Sobald nach ein oder zwei Stunden die Sonne rauskommt: Ausflug, aufs Wasser, Wanderung. Bald kennt uns scheinbar jeder. „Braucht ihr ne Dusche? Kommt einfach vorbei.“ „Wenn ihr ne richtige Küche braucht, mein Haus ist das da hinten.“ Ob reine Nächstenliebe oder Mitleid, weil wir bedürftig aussehen, hinterfragen wir einfach nicht. Neben Freundlichkeit findet man hier ein gutes Irland-Einsteiger-Paket: Pubs mit Livemusik, Flüsse voll von Lachsen und Bachforellen – unser Grundnahrungsmittel, nachdem wir uns mit Fliegenroute und Lizenz ausgestattet haben –, der Ben Bulben, ein über 500 Meter hoher Tafelberg an Sligos Küste, und ungewöhnlich viele Steinkreise und Dolmen. Wir wandern auf den Knocknarea, wo Königin Maeve von Connacht begraben liegen soll. Unter einem riesigen Steinhaufen, viele Tausend Jahre vor Christus errichtet. Vorbei an Rinderweiden und über Felsen schlängelt sich der Pfad hinauf.
An einigen Steigungen muss man mit Händen und Füßen vorankommen. Zwischendurch den Weg über die Grasnarbe und kleine Quellen suchen. Und dann ist man oben und steht vor dem Hügel aus der Jungsteinzeit. Der ist allerdings weitaus weniger beeindruckend als der Aufstieg selbst. Dafür ist der Ausblick umso gewaltiger. Hier oben beschließen wir, dass es Zeit wird, weiter in den Süden zu fahren.
Eine Steinmauer aus groben Brocken auf der einen Seite, Büsche auf der anderen, dann und wann ragt mal einer der Felsen etwas mehr hervor, als man sich das bei Gegenverkehr wünscht. So geht es weiter die kurvige N67 entlang. Beim Drumcliff River machen wir Halt und angeln uns das Abendessen in der Dämmerung. Direkt am Fluss schichten wir ein Lagerfeuer und braten die Fische über der Glut. Scheinbar nicht so unbemerkt wie gedacht, denn unerwartet steht ein Ire neben uns. Bevor wir zur Entschuldigung für Feuer und Wildcampen ansetzen können, kommt ein „Cool, dass ihr hier ein Feuer macht, ich wohn drüben auf der anderen Flussseite. Wenn ihr Lust habt, kommt heute Abend oder morgen Früh einfach vorbei.“ Das ist Irland. Wenn man freundlich nachfragt, kann man auch an Flüssen, die durch Privatbesitz oder Pferdekoppeln fließen, angeln. Aber ohne Lizenz geht nichts, denn fast jedes Mal werden wir kontrolliert. Am nächsten Morgen machen wir uns auf zum Glencare Lough mit dem Ziel, eine Wanderung zum Glencare Waterfall zu machen, den der irische Dichter und Nobelpreisträger Yeats immer wieder in seinen Werken verewigt hat. Sich die Wanderschuhe anzuziehen lohnt sich allerdings nicht. Nach ungefähr fünf Minuten ist man schon am Ziel, und das ist weniger beeindruckend als erwartet, aber dafür direkt an einem schönen Waldweg gelegen. Zurück zu unserem Wild Atlantic Way. Die großen Städte werden ausgelassen. Immer wieder kommen wir an winzigen Fischerorten vorbei.
Die Silhouette einer Burgruine, Wellen, die an die Felsen klatschen, Kühe auf grünen Weiden hinter Mauern aus Steinbrocken – als wär die Szenerie aus einem Groschenroman entstiegen, liegt Easky vor uns. Wind, Sprühregen, graue Wolken. Nach wochenlanger Sonne gestaltet sich das Wetter nun auch tagsüber ebenso facettenreich wie die Landschaft. Der feine Regen legt sich über die Kleidung, tropft von der Kapuze, läuft in kleinen Rinnsalen den Anorak hinab. Aber man gewöhnt sich dran, ebenso wie ans ständige Um- und Ausziehen, weil plötzlich die Sonne herausbricht und das Thermometer fast die 20-Grad-Marke knackt. Easky Beach ist zu Recht als Eldorado für Wellenreiter bekannt. Trotzdem stehen wir hier nicht mit mehr als fünf anderen Bussen direkt neben der Ruine aus dem 13. Jahrhundert. O‘Dowd Castle. Mehr ein Turm als ein Schloss, aber trotzdem wildromantisch. Etwas weiter zu Fuß die Küste entlang findet man bei niedrigem Wasser in den Steinen gigantische alte Fossilien. Gerippe, die teilweise mehrere Zentimeter aus den vom Meer ausgewaschenen Felsen ragen. Wir bleiben ein paar Tage, bevor wir beschließen über Enniscrone weiter zum Ballycroy National Park zu fahren. Eine mehrere Tausend Hektar große unbewohnte Wildnis mit weiten Ebenen, eines der größten Torfmoorgebiete Europas. Es zieht uns weiter in den Süden.
Zwischendrin immer wieder Stopps, um dieses wohltuende Nichts zu genießen. Auf manchen Teilen der Strecke ist es auf den Straßen so einsam, dass sich die entgegenkommenden Autos grüßen. Bei einem Plausch wird uns der Tipp gegeben, Achill Island zu besuchen. Warum nicht, das ist das Schöne an dem Kein-Plan-Plan. Spät abends erreichen wir über eine Brücke in Achill Sound die Insel. Im Dunkeln geht es schnurstracks nach Keel Beach, auf der Karte sieht es so aus, als ob man hier gut mit dem Bus stehen könnte. Direkt am Wasser entlang verläuft eine kleine Straße bis zu einer Klippe. Viel sehen kann man nicht. Also Motor aus, Abendessen und ab ins Bett in der Hoffnung, dass uns hier heute Nacht keiner vertreibt.
Ein sich ständig wiederholendes, schabendes Geräusch dröhnt durch die Karosserie an der Hecktür und weckt uns. Der ganze Bus schaukelt. Erster Gedanke: Es ist so weit, die versuchen die Karre zu knacken. Mut fassen und Hecktür aufschwingen. Der Widder starrt uns mindestens genauso sauer an wie wir ihn. Eine Schafsherde hat unsere Stoßstange als Kratzbaum ins Auge gefasst. Weil es noch früh ist, hüllt der Nebel die Klippen ein, scheint das Wasser fast zu berühren. Weiße Kiesel bilden neben uns den Strand und am anderen Ende der Bucht, ein paar Kilometer entfernt, drücken sich winzige Häuschen in den Berg. Ansonsten ist – außer den Schafen – nichts und niemand zu sehen. Für Outdoorliebhaber entpuppt sich Achill Island als perfekt. Vielfältige Wanderrouten und Spots zum Windsurfen, Kiten und Wellenreiten. Dörfer, die nur aus einer Handvoll Häuser bestehen, wilde Moore, schöne Strände. Auf einer Wanderung zum Hang des Mount Slievemore, an den sich ein Ruinendorf schmiegt, beschließen wir zwischen den Mauerresten von rund 100 Steinhäusern kurzerhand die Reisepläne über Board zu werfen und den Irlandtrip um ein paar Wochen zu verlängern. Nach vier Tagen wird es plötzlich voller auf der Insel, zumindest für unser Empfinden: zwei kleine Festzelte werden aufgestellt, ein Kuchenstand bestückt. Wir sind mitten in die Sheepdog Trials geraten. Mit blitzschnellen Bewegungen umkreisen die Hütehunde im Wettbewerb die Schafsherde, treiben die blökende Meute zusammen, erstarren mitten in der Bewegung, sobald ein kaum hörbarer Pfiff vom gut 100 Meter entfernten Herrchen kommt, pirschen weiter und dirigieren die Tiere durch ein Tor oder teilen die Herde auf und separieren zuvor markierte Schafe. Spannend, trotz allem ist uns der „Trubel“ nach kurzer Zeit zu viel und wir ziehen auf dem Festland weiter gen Süden.
Am Croagh Patrick, dem heiligsten Berg der Iren, fahren wir deshalb vorbei. Laut einer Wandertruppe, die wir auf unserer Reise getroffen haben, lohnt sich die Gipfelersteigung. Aber Zigtausende Pilger kraxeln die 800 Meter Jahr für Jahr hoch, um Buße zu tun, wo einst Schutzpatron St. Patrik verweilte. Wir haben ein anderes Ziel vor Augen und lassen den Berg ziehen. Es geht vorbei an Killadoon zum Connemara-Nationalpark. Denn genau hier findest du das, was du dir unter dem Wilden Westen Irlands vorgestellt hast. Weitläufige Moore, Heidekraut, und hinter jeder Ecke treffen wir auf Torfstecher, die das Sediment in großen Quadern neben der Straße zum Trocknen aufschichten. Die Menschen hier sprechen teilweise noch immer Gälisch, sind aber freundlich bemüht und können dir zum größten Teil auch auf Englisch weiterhelfen. Auf einen weiteren Tipp hin machen wir einen Abstecher zur Ireland’s School of Falconry beim Ashford Castle im County Mayo. Mittlerweile beherbergt das mittelalterliche Schloss eines der exklusivsten Luxushotels Irlands. Trotzdem kann jedermann durch den Schlosspark und -wald streifen, vorbei an der Falknerei und mit etwas Glück bei einer Flugstunde zugucken. Das Örtchen Cong in der Nähe, mit kaum mehr als 100 Einwohnern, ist ebenfalls bezaubernd. Attraktion ist die Ruine der Cong-Abbey. Allerdings müsste man dafür zahlen. Nachdem wir so viele alte Gemäuer für lau betreten konnten, sparen wir uns die Tourinummer. Aus den gleichen Gründen lassen wir auch Galway bei der Weiterreise links liegen und widmen uns lieber wieder der ursprünglichen Natur an der Küste. Dachten wir. Reisebusse, in denen Besuchermassen angekarrt werden, ausgestattet mit Fernglas und Fotoapparat – an den Cliffs of Moher werden wir schneller auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als uns lieb ist. Die gewaltige Felsenklippe ist alles andere als ein Geheimtipp. Völlige Überforderung, nachdem wir wochenlang nie mehr als eine Handvoll Menschen zu Gesicht bekommen haben. Rollatorgeeignete Wege, Parkeinweiser, Informationszentrum mit Souvenirshop. Wer sich allerdings daran vorbeigekämpft hat, kommt auf einen über acht Kilometer langen Pfad, der sich bis zur Küstennase schlängelt. Die Klippen sind teilweise bis zu 200 Metern hoch, der Weg minimalistisch und nach ein paar Hundert Metern ist man wieder für sich. Der Wind fegt über uns hinweg und zerrt an der Kleidung. Trotzdem sollte man den Blick nach unten wagen und nach Papageientauchern, Riesenhaien oder Delfinen Ausschau halten.
Schiebetür auf. Der Regen prasselt auf die ohnehin schon völlig klamme Kapuze. Die nassen Haarstähnen werden vom Wind ins Gesicht gepeitscht, Tropfen rinnen in einem Bach herunter und tropfen auf die Schuhspitze. Schiebetür zu. Das Vorhaben, einen Kaffee trinken zu gehen, wird vertagt. Irland zeigt seit einer Woche, was es wettertechnisch drauf hat. Und das ist ne Menge. Wir sind inzwischen in Lahinch angekommen. Einer der besten Surfspots Irlands soll hier sein. Surfläden und -schulen an jeder Ecke. Das einzige Gewässer, in das wir uns allerdings in den letzten Tagen gestürzt haben, ist das Schwimmbad. Ausgiebig heiß duschen und Whirlpool, bis die Haut schon ganz schrumpelig ist. Mittlerweile sind über neun Wochen vergangen. Für uns geht es weiter in den Süden Europas – wieder etwas Sonne tanken.
Text und Fotos Ina Krug