Nordwärts

Kompassnadel auf Nord. Martin Hülle durchstreift seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten einsame Berglandschaften und Gletscherwelten des Nordens, im Sommer wie im Winter, auf eigene Faust oder im Team. Plötzlich ist eine ärztliche Diagnose erst Schreckmoment, dann Aufbruchssignal.

RAUS! hat beim Wuppertaler Fotografen nachgefragt.

Hallo Martin. Vor gut fünf Jahren stellten zwei Krampfanfälle dein Leben sprichwörtlich auf den Kopf. An welche ersten Gedanken und Reaktionen auf die darauf folgende Diagnose Epilepsie kannst du dich erinnern?
Es gibt schlimmere Krankheiten. Es ist nur Epilepsie. Da ich die beiden Anfälle zu Hause an einem Wochenende hatte, machte ich mich danach mit meiner Frau voller Ungewissheit auf ins Krankenhaus, wo ich einige Stunde in der Notaufnahme verbrachte. Dort wurde ich sofort verkabelt und an alle möglichen Geräte angeschlossen. EKG, Blutdruck, Infusion. Der neurologische und psychische wie auch der allgemeinmedizinische erste Befund zeigten allerdings keine größeren Auffälligkeiten. Blut und Nervenwasser lagen zudem im Normbereich und auch bei der Computertomografie war nichts zu finden. Auch kein Tumor, wie der Arzt trocken bemerkte … Also war von einer Epilepsie auszugehen – es hätte aber auch was viel Ernsteres sein können.

Welche Rolle haben Familie und Freunde in dieser Zeit für dich gespielt?
Ich war fast eine Woche in der Klinik, bekam ein Medi-kament verschrieben und damit ging es erst so richtig los. Die Tabletten warten mit heftigen Nebenwirkungen auf, die bis hin zu schwerer Depression und Selbstmordgedanken führen können. Zum Glück verursachten sie bei mir in den ersten Wochen aber nur die üblichen Anfangsprobleme: Schwindelgefühle und Müdigkeit. Oft kam ich morgens kaum aus dem Quark, konnte mich am Nachmittag schon wieder hinlegen und schlief abends vor dem Fernseher ein. Dazu kamen später noch zwei Wochen Durchfall und schließlich aufgrund eines geschwächten Immunsystems eine Gürtelrose. Ich war in der Zeit zu kaum etwas zu gebrauchen und besonders meine Familie und hier meine Frau mussten viel abfangen. Aber sie gaben mir die Chance und unterstützten mich dabei, langsam wieder auf die Beine zu kommen und mir die Zeit zu nehmen, die es brauchte. Ein ganz wichtiger Rückhalt in dieser Phase.

In den Tagen im Krankenhaus und Wochen danach reifte dann ein Entschluss in dir: vier Jahre des Aufbrechens. Ein Foto- und Reiseprojekt mit dem Titel „Mein Norden“ und den Zielen Norwegen, Schweden, Finnland, Schottland, Island, Färöer-Inseln, Svalbard und Grönland. Beschreibe doch mal deine erste Idee zum Gesamtprojekt.
Zuerst war es ein Gefangensein im Hier und Jetzt, ein Gefühl von Stillstand und Niederlage. Aber ich denke ja immer, dass solche Dinge für irgendetwas gut sein müssen. Ich nahm es wie eine Krise, die eine Option auf einen Neuanfang bot. Ich befand mich in einem dunklen Tunnel, an dessen Ende ich aber ein Licht erkannte. Ich wollte nachschauen, was sich dort zeigen würde. Und mich bald wieder auf den Weg machen … Zu der Zeit war ich ja bereits zwei Jahrzehnte immer wieder in den Norden gereist und hatte dort schon viel gesehen und erlebt, doch jetzt nahm ich meine Situation zum Anlass, alles noch einmal zu träumen und aufzubrechen zu den wundervollen Orten, die mir von früher viel bedeuteten – aber gleichzeitig auch Neuland aufzuspüren, in dem ich zuvor noch nie war, jedoch schon immer einmal hinwollte.

Welche emotionalen und rationalen Gründe steckten hinter der Entscheidung, auf diese Weise aufzubrechen?
Der Antrieb war natürlich höchstpersönlich, was dann auch zum Titel „Mein Norden“ führte. Ich wollte meine Sicht dieser Länder und Regionen darstellen, was sie mir bedeuten und was ich dort empfinde. Aber ich musste auch rational vorgehen und die Reisen so zusammenstellen, dass sie einen abwechslungsreichen Bilderbogen ermöglichen, der viele Facetten aufzeigt und alle Jahreszeiten beinhaltet. Meine Krankheit war der Auslöser, aber nicht die alleinige Geschichte, die ich erzählen wollte. Eine Liebeserklärung an raue Landschaften, karge Regionen und eine intensive Art des Unterwegsseins hatte ich mir auf die Fahnen geschrieben.

 Seit mehr als 25 Jahren streifst du inzwischen durch Berge und übers Eis nordischer Länder, sprichst selbst von „Nordlandfieber“ und „Arktis Bazillus“, die in dir stecken. Kannst du dich an den ersten Auslöser erinnern?
Na klar, alles begann im August 1991. Ich war gerade mal 17 Jahre alt und wanderte auf dem Kungsleden, Schwedens berühmten „Königspfad“, von Abisko nach Kvikkjokk. Die nordische Einsamkeit brannte sich sofort tief in mir ein, auch wenn es mir manchmal noch schwerfiel, das Alleinsein zu ertragen. Aber ich war gleichsam fasziniert von der Landschaft und der Freiheit, über Berge und durch Täler zu schreiten. Es war der Beginn einer Leidenschaft, die bis heute ungebrochen ist und über die Jahre sogar immer stärker wurde.

 Du bezeichnest deine Touren generell als eine „intensive Art des Unterwegsseins“. Was füttert diese Intensität?
Allein die Tatsache, im Sommer zu Fuß oder im Winter mit Skiern, tage- oder gar wochenlang in die Wildnis aufzubrechen, die Natur über einen großen Zeitraum fern der Zivilisation am eigenen Leib zu spüren, macht diese Intensität des Unterwegsseins aus. Gehen Touren an die körperlichen oder emotionalen Grenzen, wird alles noch eindrücklicher. Aber das funktioniert auf verschiedenen Ebenen und es geht nicht darum, dass etwas „extrem“ ist. Als wir vor zwei Jahren mit unserer damals fünfjährigen Tochter zum ersten Mal Mehrtagestouren in Norwegen unternahmen, war unser Erlebnis der Natur viel intensiver als während der Reisen, wo wir noch mit dem Auto von Ort zu Ort fuhren und zwischendurch nur ein paar Tageswanderungen unternahmen. Uns hinauszuwagen und in Kauf zu nehmen, auch einmal zwei Tage am Stück bei Regen und Sturm im Zelt festzuhängen, war der Schlüssel und bescherte uns wunderbare Familienmomente.

Deine letzte Reise des Projektes hat dich 2016 nach Grönland ins Johan-Dahl-Land, die Region Qajuuttap Nunaa und das Mellemlandet geführt. Tagelang zu Fuß durch die Einöde zu gehen, keine Menschenseele zu treffen – was macht das Alleinsein mit dir?
Erst einmal habe ich es genossen. Ich lebte in meinem eigenen Kosmos und habe alle Eindrücke nur für mich aufgesaugt. Allein unterwegs zu sein, ist immer auch eine viel stärkere Reise nach innen. Daher glaube ich auch, dass es wichtig war, die letzten Schritte des Projektes allein zu gehen. Genauso wie die erste Projektreise eine Solotour war. „Mein Norden“ brauchte diesen Rahmen. Zudem kann man allein tun und lassen, was man möchte, alle Höhen und Tiefen sind unmittelbarer und die Sinne sind geschärfter.

Inwieweit spürst du die potenzielle Gefahr von epileptischen Anfällen, gerade auf Solotouren?
Natürlich hat mir mein Arzt nach der Diagnose davon abgeraten, wieder allein auf Tour zu gehen. Aber ich unternehme ja seit eh und je Solotouren auch extremer Art und habe daher wahrscheinlich sowieso einen anderen Zugang dazu als Menschen, die ohnehin nicht auf die Idee kämen, mutterseelenallein in menschenleere Wildnis aufzubrechen. Das Medikament, welches ich nach wie vor täglich nehme, scheint aber auch gut zu wirken und ich hatte keine weiteren Anfälle mehr. Daher schätze ich die Wahrscheinlichkeit nicht höher ein, dass mir aufgrund der Epilepsie etwas zustoßen könnte als durch die erhöhte Gefahr, die Touren ohne Partner ohnehin mit sich bringen. Seit ich mich an die Tabletten gewöhnt habe, schränkt mich die Krankheit hier zum Glück nicht ein.

 Du hast auch einige Reisen mit Partnern wie Weitwanderer Simon Michalowicz durchgeführt. Was ist neben dem Wahrnehmen fremden Körpergeruchs anders, wenn man zu zweit unterwegs ist?
Man kann sich austauschen. Über die Erlebnisse, das Wetter, die Schwierigkeiten des Weges. Entscheidungen können diskutiert werden, man kann sich helfen. Ist man allein unterwegs, ist man für alles verantwortlich. Das ist Freiheit und Schwierigkeit in einem. In einer Gruppe kann man auch einfach mal hinterherlaufen. Die Qualität des Erlebens ist in dieser oder jener Konstellation nicht besser oder schlechter, aber anders. Daher mag ich beides.

Welche Tipps und Erfahrungen kannst du bezüglich Essen und Trinken unterwegs teilen?
Trinkbares Wasser gibt es in den nordischen Ländern in ausreichender Form. Ob in Flüssen, Seen oder im Winter als Schnee, der erst einmal geschmolzen werden muss. Anders sieht es mit dem Essen aus – das ergibt meist den Löwenanteil der Ausrüstung. Vom Müsli über diverse Riegel und Schokolade, Nüsse und Trockenfleisch bis hin zur leckeren Trekkingmahlzeit ist alles dabei. Auf unseren Familienwanderungen war Rührei mit Zwiebeln ein Highlight zum Frühstück – natürlich auch aus der Tüte und nur mit Wasser angerührt.

Welche körperlichen Voraussetzungen waren für die Ski- und Pulkaschlitten–Wintertour 2015 auf Svalbard elementar?
Wie die Durchquerung Islands im Winter 2013 war das sicherlich eine der anspruchsvollsten Touren des Projektes. Regelmäßiges Training im Vorfeld der Reisen war da schon wichtig, um die schwere Ausrüstung durch die Berg- und Gletscherwelt ziehen zu können. Schlechtes Wetter und tiefe Temperaturen tun ihr Übriges. Eine gute Fitness sollte also vorhanden sein, damit eine solche Tour nicht zur Tortur wird und auch Spaß macht.

Du schreibst in deinem neuen Bildband zu dem Projekt: „Egal was kommt, in der Natur unterwegs zu sein, bringt immer gute Laune.“ Hand aufs Herz: An welche Momente kannst du dich erinnern, die dich so richtig an die Grenzen gebracht haben?
Im vorigen September in Grönland habe ich am zweiten Tag der Wandertour den Gletscher Kuussuup Sermia überquert, über dessen eisige Zunge ich hineingelangt bin ins Johan-Dahl-Land. Mitten im Eis fand ich fast nicht mehr heraus aus dem Wirrwarr aus Spalten und tiefen Rissen. Es erforderte viel Konzentration und Kraft, um die andere Seite zu erreichen. Physisch und psychisch war ich total erschöpft. In der folgenden Nacht tat mir der ganze Körper weh. Aber es war auch mal wieder ein saugutes Gefühl, es geschafft zu haben. Ganz anders auf Spitzbergen. Dort hatte sich unterwegs ein Nerv eingeklemmt und ich bekam nahezu unerträgliche Schmerzen vom Nacken über die Schulter bis in den linken Oberarm. Wir versuchten noch, weiterzukommen, aber irgendwann war es einfach sinnlos und es galt nur noch, auf kürzestem Weg zurückzukehren zum Ausgangspunkt.

Wie erlebst du danach den Wechsel von der Wildnis in den Wuppertaler Alltag?
Seit ich eine Tochter habe, war ich allein nie mehr länger als etwa drei Wochen am Stück fort. Der Alltag hat mich dadurch auch schnell wieder und ich freue mich auch immer darauf, nach Hause zu kommen. Bizarr war es allerdings nach der Grönlandreise im letzten Jahr, bei der ich lange Zeit niemandem begegnet war. Zwei Tage nach meiner Rückkehr stand ich auf der photokina, der weltgrößten Fotomesse, auf einer Vortragsbühne und erzählte vor einer „Menschenmenge“ von Erlebnissen, die ich noch gar nicht so richtig verarbeitet hatte.

Das Projekt ist mit deinem gerade erschienenen Bildband abgeschlossen. Wie schaust du mit dem Blick zurück auch auf zukünftige Ziele?
Ja, das Buch „Mein Norden“ ist der krönende Abschluss. Und es war auch Motivation, so lang durchzuhalten, schließlich lief bis dahin nicht alles nach Plan. Die Grönlandreise wollte ich ursprünglich schon ein Jahr zuvor unternehmen, aber da machte mir die Fluglinie einen Strich durch die Rechnung und cancelte zwei Wochen vor Abreise alle Flüge. Nur wäre ohne die grüne Insel das Projekt nicht rund gewesen, also musste ich noch ein Jahr dranhängen, bis ich die Reise nachholen konnte. So wurde es zu meinem bisher längsten und umfangreichsten Projekt, was mich sehr gefordert hat, mir aber auch viel gegeben hat. Ich möchte es nicht missen und es war nach der Epilepsie-Diagnose die absolut richtige Entscheidung „zurück auf Los“ zu gehen. Zudem habe ich Blut geleckt – ein Projekt aus mehreren Reisen zusammenzusetzen, die ein spannendes Ganzes ergeben, wird auch in Zukunft mein Ziel sein. Ich habe bereits zwei Konzepte in der Schublade. Mit der Umsetzung des ersten werde ich Ende Juni bereits beginnen. Über so viele Jahre wie „Mein Norden“ wird es allerdings nicht gehen, darüberhinaus aus weniger Reisen bestehen. Und auch meine Krankheit wird dabei keine bestimmende Rolle mehr spielen. Trotzdem möchte ich erneut eine persönliche Geschichte erzählen und am Ende wieder als Bildband veröffentlichen. Für mich ist das ganze wie ein Musikalbum und die Reisen sind die einzelnen Songs.

Infokasten: Buchvorstellung
Im Mai erschien „Mein Norden“ mit Bildern und Texten über Martin Hülles Reisen:
• Sarek- & Padjelanta-Durchquerung – Schweden/Norwegen 2012
• Island Winterdurchquerung – Island 2013
• Der Skye Trail – Schottland 2013
• Färöerrundreise – Färöer-Inseln 2013
• Der Kungsleden in der Polarnacht – Schweden 2013
• Islandrundreise – Island 2014, Saariselkäwanderung – Finnland 2014
• Spitzbergen-Wintertour – Svalbard 2015
• Norwegenwanderungen – Norwegen 2015
• Hardangerjøkulen-Umrundung und -Überquerung – Norwegen 2015
• Johan-Dahl-Land-Durchquerung – Grönland 2016

Limitiert auf 333 Exemplare, nummeriert und handsigniert,
Format: 30 x 22 Zentimeter, Hardcover, 176 Seiten.
Bestellungen per E-Mail unter post@martin-huelle.de
Weitere Infos unter www.martin-huelle.de

Interview: Benjamin Hellwig
Fotos: Martin Hülle