hygge – Lebensgefühl auf Langeland

Als uns das Wetter zu schade für Trubel und Stress ist, schwingen wir uns in den Bulli und machen uns kurzerhand auf, um das dänische Eiland, dessen Ruhe und Behaglichkeit aufzusaugen.

Von der Wärme der Strahlen, die durch das Dachfenster scheinen, und dem piepsenden Hintergrundgeräusch geweckt, tasten meine Finger routiniert nach dem Wecker. Stattdessen greife ich in die Kissen. Es dauert einen Moment, bis sich die Erinnerung durch die letzten Traumfetzen gewühlt hat: Das Alarmgerät ist zu Hause geblieben. Schiebetür auf, Sonne rein, perfekter Morgen. Die natürliche Uhr mit Weckfunktion guckt entrüstet in unsere Richtung, nimmt dann aber relativ unbeeindruckt das laute und schrille Trillern wieder auf. Hin und her stolziert Herr oder Frau Austernfischer nur wenige Meter vor unserem Heim auf vier Rädern durchs Moor. Granola rieselt in die Schüssel, Quark und Beeren dazu, gefräßiges Mampfen. Mit dem Frühstück in der Hand beobachten wir, wie der kleine Krachmacher noch immer unentwegt durch das flache Wasser stakst. Den Kopf nach links gedreht, fällt unser Blick durch die Frontscheibe Richtung Meer. Während dort auf der Ostsee ein kleines Fischerboot den Heimweg antritt, macht sich auf der anderen Seite der Miniaturstorch mit den auffälligen roten Beinen langsam vom Acker, bis unser rhythmisches Mampfen seine Rufe vollends übertönt. Tag eins auf Langeland.

Hygge leben. Dem haben wir uns für die nächsten Tage verschrieben. Einem Gefühl, dem sogar ganze Zeitschriften, Bücher und ein Eintrag im Duden gewidmet werden, während Ratgeber Schritt-für-Schritt-Anleitungen für das Erreichen des Hygge-Seins geben. Hier ist es einfach da. Die könnens eben, die Skandinavier. Nur wenige hundert Kilometer von der Heimat entfernt und doch ist auf einen Schlag alles anders. Die Behaglichkeit breitet sich bereits aus, wenn die dänische Grenze überquert wird, mit der plötzlich veränderten Vegetation verlangsamt sich der Puls. Das lange Eiland, eine von Hunderten Inseln Dänemarks, verspricht Ruhe, unverfälschte Natur und Wanderwege en masse. Den Höhepunkt des Tourismus hat Langeland längst hinter sich gelassen und wieder zu sich selbst gefunden. Vergessen sind die Tage, als die Fähre von Kiel nach -Bagenkop noch regelmäßig verkehrte und die Urlauber ausspuckte. Heute nimmt kaum mehr jemand die lange Anfahrt über Kolding und Odense in Kauf. Schön für uns. Wir packen das Nötigste und brechen auf, marschieren teilweise auf dem Øhavsstien, einem Wanderweg, der sich unter anderem über die Insel Langeland zieht. An anderen Stellen zweigen wir ab und streifen einfach umher.

Bergauf, bergab durch die kleinen halbkugelförmigen Erhebungen, die an das Auenland der Hobbits erinnern und die Landschaft charakterisieren. „Hatbakker“ werden die Überbleibsel aus der Eiszeit liebevoll genannt, was soviel wie Huthügel bedeutet. Wir passieren Kirchen mit weißgetünchter Fassade, Klatschmohn, Kornblumen und wilde Margeriten tauchen die Felder drumherum in bunte Farbkleckse. Auf unseren Wanderungen kommen wir immer wieder an Brombeeren, Schlehen oder Blaubeeren vorbei, die uns ein willkommener Zwischensnack sind, sowie an Bäumen, die sich unter der Last der reifen Pflaumen, Äpfel oder Birnen neigen. Vor vielen Häusern stehen kleine Tischchen mit frisch geernteten Kartoffeln, Salatköpfen, Möhren und Tomaten. Eier werden angeboten sowie selbstgemachtes Quittengelee, Erdbeermarmelade und was der heimische Garten hergab. Shoppen nach dem Selbstbedienungskassen-Prinzip. Beute in den Rucksack, Kronen in den Geldkasten. Und überall begegnet uns das Meer. Selbst im Inland der Insel kannst du das Wasser sehen, wenn du einen Baum oder Hügel erklimmst. Langelands Gewässer gelten angeblich als die fischreichsten Dänemarks. Meerforelle, Dorsch, Scholle, Butt und sogar Knurrhahn soll hier regelmäßig an Land gezogen werden. In unserem Bus warten Angellizenz und Harpune noch auf ihren Einsatz und unser Magen auf ein komplettes Selbstversorgermahl. Wir wandern zunächst jedoch zum Ristinge Klint und genießen die Aussicht über das Südfünische Inselmeer. Die Steilküste erstreckt sich über mehrere Kilometer und misst an der höchsten Stelle 30 Meter.

Der Wind nimmt zu und nachdem uns die Nase freigepustet wurde, treten wir den Rückzug zu den flachen Dünen an. Die ziehen sich parallel zum kilometerlangen Strand durch die Heide bis zum Nørreballe Nor, einem beliebten Platz unter Hobby-Ornithologen, die versuchen Rohrdommeln oder einen Seeadler vor die Linse zu bekommen. Die Tage ziehen dahin und mit unserem Bus finden wir fast jeden Abend ein Plätzchen mit Meerblick. An diesem Abend werden wir allerdings von einem älteren Bauernpaar eingeladen auf deren Hof zu übernachten. Angelruten und Fotografien an den Wänden zeugen vom Fangglück des Besitzers und bei einer Tasse Tee und Geschichten bekommen wir Tipps, wo wir selbst das nächste Mittagsmahl ins Netz bekommen können. Petri Heil.

Am nächsten Tag laufen wir zunächst durch Tullebølle zum Örtchen Tranekær Sogn, das mit seinen winzigen, farbenfrohen Reetdachhäusern der Puppenstube entsprungen scheint.

In der Slotsgade haben sich Künstler in den alten Fachwerkbauten angesiedelt, deren Ateliers bunt und windschief die neugierigen Blicke auf sich ziehen. Als Gegenspiel thront das Schloss auf einer Erhebung. Leuchtend rot gestrichen ist es vielleicht nicht das Schönste seiner Art, aber mitten im augenscheinlichen Miniaturdorf eine gewaltige Erscheinung. Es ist seit Jahren in Privatbesitz von Graf und Gräfin, die es bis heute als Wohnsitz nutzen. Die Tore des Schlosses öffnen sich nur an einigen ausgewählten Tagen, dann wird man jedoch meist von der Gräfin persönlich durch die opulenten Räume geführt. Wir begnügen uns mit dem Schlosspark, der jederzeit besichtigt werden kann. Zahlreiche Skulpturen aus Naturmaterialien wie Steinen und Stöcken schmiegen sich hier an die Bäume. An der Schlosswindmühle bekommen wir ein Stück Kuchen zur Stärkung und machen uns dann auf die Suche nach dem Fanglocationtipp vom Bauern. Im alteingesessenen Angelladen fragen wir zur Sicherheit noch einmal nach, welche Fische zurzeit gefangen werden dürfen, dann ziehen wir los, streifen die Neoprenanzüge über, lassen uns ins Wasser gleiten, von der Strömung die Küste entlangtreiben. Ruhe. Eine faszinierende Unterwasserwelt und für Ostseeverhältnisse klares Wasser ziehen uns in ihren Bann. Ein paar Stunden später landen zwei fangfrische Schollen in der Pfanne überm Feuer, in unserem Magen gesellen sich dazu Pellkartoffeln mit Butter und Salz sowie Salat, unsere Ausbeute vom Gutshof. Mit Lagerfeuer, dicken Kissen und Blick aufs Meer könnte es uns schlechter gehen.

Geselligkeit, das ist es, wonach uns der Sinn am nächsten Morgen steht, als nichts außer weiten Wiesen zu sehen ist. Ein Café in der Stadt. Unsere Wahl fällt auf Rudkøbing. Ehrlich gesagt gibt es keine Wahlmöglichkeit, es ist die einzige Stadt auf Langeland, aber sie vereint alles, was man sich unter einem dänischen Ort vorstellt. Vorbei an verwinkelten Gassen, alten Kaufmannshöfen mit Rosenstöcken an der Fassade und aufwändig verzierten Türen schlendern wir durch die Altstadt. Besonders stolz ist man auf den Physiker Ørsted, der hier gelebt hat. „Hans Christian wuchs in Det Gamle Apotek auf“, erzählt uns die Antikwarenverkäuferin mit einem stolzen Lächeln, als hätte sie ihn persönlich gekannt. „Da.“ Dem Fingerzeig der alten Dame folgend, landen wir auf dem Platz vor seinem Geburtshaus, wo eine Statue des Entdeckers des Elektromagnetismus steht. Ørsteds Stiefelspitzen erscheinen mir blank polierter als der Rest seiner Gestalt, nach kurzem Überlegen reibe ich sie mit meinen Fingerspitzen, teils weil ich noch den stolzen Blick der Dame im Rücken fühle und das Gefühl habe, etwas Huldigendes zu tun, teils weil es mich an die Bremer Stadtmusikanten oder die Knöpfe einer Schornsteinfegerjacke erinnert und man weiß ja nie, wann einen das Glück trifft. Im nahe gelegenen Café vergessen wir auf den gemütlichen Sofas die Zeit, betrachten das Treiben, kommen mit anderen Gästen ins Gespräch oder genießen schweigend die zweite Tasse Kakao, bis es Abend geworden ist und die Türen schließen.

Rot gestrichen mit weißen Fensterläden und ordentlich in einer Reihe aufgereiht, dahinter schaukeln die Fischerboote auf und ab – der Hafen Bagenkop an der Südspitze von Langeland fällt schon von Weitem durch die einheitlichen Häuschen und den Aussichtsturm auf.

Aufgeregt kreisen die Möwen in der Luft, dort wo die Kutter festmachen, wird die fangfrische Beute verkauft.

Wir fahren vorüber, haben ein anderes Ziel. Gulstav Mose. Eine Wildpferdeherde von über 60 Stück lebt hier sich selbst überlassen in einem Reservat. Die Exmoor-Ponys, robust und zäh, werden zur Landschaftspflege eingesetzt. Obwohl das Gebiet eingezäunt ist, darf man es betreten, wenn man sich an die Verhaltensregeln hält. Füttern ist verboten, die Tiere dürfen nicht berührt und es sollte ein Mindestabstand von 50 Metern eingehalten werden. Fortuna scheint von dem gestrigen Reiben der Schuhe bezirzt. Schon wenige Minuten, nachdem wir übers Gatter gestiegen sind, sehen wir die Ponys in einer Senke und gehen in die Hocke. Mit zerzauster Mähne stellen sie sich gegen den Wind, schubbern sich an den tiefhängenden Ästen oder grasen. In der Sonne liegt ein Fohlen und lässt sich die Strahlen auf den Bauch scheinen. Die ganze Herde folgt ihrem eigenen Rhythmus, genießt das Leben im Hier und Jetzt. Ganz hygge eben.

Info:

Vogelbeobachtung:
In Tryggelev Nor finden Bird Watcher eine enorme Artenvielfalt, die sich von den Vogeltürmen aus beobachten lässt. Direkt am Meer bietet sich den Tieren mit kleinen Seen und viel Schilf ein abwechslungsreicher Lebensraum und uns Zweibeinern eine schöne Wanderstrecke. Das Kleinod steht unter Naturschutz und wird von der EU gefördert, Ende 2018 wurde ein neuer Beobachtungsschuppen eröffnet. Nicht selten begegnest du hier Rothals-tauchern, Rohrdommeln und Zwergsägern. Im Gulstav Mose im Süden der Insel kann man mit etwas Glück seltene Arten wie den Seeadler vor die Linse bekommen.

Wildpferde:
Eine große Herde Exmoor-Ponys lebt auf Langeland in freier Natur und sorgt dafür, dass Wiesen abgeweidet sowie Gräser und Sträucher kurzgehalten werden. Zwar wurden die Exemplare erst vor einigen Jahren angesiedelt, doch Ausgrabungen bewiesen, dass schon vor Tausenden von Jahren Wildpferde auf dem Eiland lebten. Genetische Untersuchungen von Knochenfunden ergaben, dass die Exmoor-Rasse den ursprünglichen Wildpferden am ähnlichsten ist. An der Küste bei Dovns Klint, am südlichsten Punkt der Insel, sind sie heute zu finden. Das Areal ist eingezäunt, kann aber unter Beachtung der Verhaltensregeln betreten werden. Zwei kleinere Herden leben in einem Reservat direkt bei Bagenkop und Tranekær.

„Madpakkehus“:
Auf Langeland gibt es mehrere Picknickhütten, die das ganze Jahr über für jedermann geöffnet sind. Ein kleines reetgedecktes „madpakkehus“, was soviel wie Mittagessenhaus bedeutet, liegt beispielsweise in Østerskov direkt am Wasser, windgeschützt hinter einem Wall. Ebenso schön gelegen ist das Picknickhäuschen am Klise Bodden. Von hier aus können mit etwas Glück die Exmoor-Ponys beobachtet werden.

Hofladen:
Leckeres Biogemüse und selbstgebackenen Kuchen gibt es auf dem Skovsgaard-Gut im Südosten Langelands. Mit Blick auf das kleine Schlossgebäude kannst du draußen am See unter den Bäumen sitzen. Im Hofladen des ökologischen Betriebs können hausgemachte Produkte und Obst- und Gemüse von den Feldern gekauft werden, in den Nebengebäuden erfahren Besucher einiges über die Geschichte des Guts.

Wander- und Radwege:
Der Øhavsstien-Wanderweg ist zumeist eher ein Trampelpfad, was seinen Charme ausmacht. Er ist mit Pfosten gekennzeichnet und gut ausgeschildert. Auch ein Teil der Danske Klosterrute, eine Pilgerwanderroute entlang mittelalterlicher Klosterstätten, führt über die Insel sowie eine Passage der EuroVelo-Route 10, der Ostseeküsten-Radweg. Das Eiland zwischen Fünen und Lolland ist also gerüstet für Aktive.

Text und Fotos: Ina Krug