Wir müssen aufhören uns selbst zu belügen
RAUS! aus dem linearen Handeln, damit wir wieder glücklich RAUSgehen können.
Wenn in Bali die Regenzeit beginnt, werden selbst kleine Flüsse zu reißenden Strömen und machen nicht nur den Verkehr noch chaotischer, sondern spülen gleichzeitig bergeweise Müll heran, den es vor ein paar Jahrzehnten noch nicht gab. Angesichts der nach Absinken des Pegels zurückbleibenden Verschmutzung in den Flussläufen sagte neulich ein Einheimischer, daran sei „der Regen“ schuld.
Inzwischen ist er allgegenwärtig, der Plastikmüll – an den Ständen, an denen wir gewohnt sind Urlaub zu machen, in Korallenriffen, zu denen wir getaucht sind, um ihre einzigartige Schönheit zu bewundern, oder auch nur am Wegesrand auf Wanderwegen, auf denen wir der Hektik der Städte entfliehen wollen. 31 Tonnen Müll hat kürzlich eine Insel vor Kenia an ihren Stränden eingesammelt, die das Meer angespült hat. Ein lokaler Bootsbauer in der vierten Generation hat sich entschieden, aus Protest eine traditionelle Dau aus diesem Abfall zu bauen, mit angeschwemmten Flipflops zu verkleiden und um das Kap der Guten Hoffnung zu segeln (www.theflipflopi.com).
Wir gehen raus, um die Natur zu genießen, und sind mittendrin in den Überbleibseln der Zivilgesellschaft, der wir eigentlich entfliehen möchten. Doch während wir immer neue, noch entlegenere Flecken des Planeten suchen, die bisher noch kaum jemand entweiht hat, müssen wir uns klarmachen, dass das Problem längst überall angekommen ist – denn es wird von Wind und Meeresströmungen bis in die letzten Ecken der Erde verteilt, wie beispielsweise PFC aus unseren chemisch imprägnierten Outdoorjacken, bevor wir überhaupt dort waren. Und es wird nicht reichen, zu Aktionen aufzurufen, beziehungsweise uns auch daran zu beteiligen, um die Orte unserer Sehnsucht mühselig wieder zu reinigen, denn die nächste Flut wird den Abfall immer neu anspülen – oder er landet gleich auf unseren Tellern, sobald er erfolgreich unsere Nahrungskette erobert hat.
An vielen Stellen wird jetzt der Ruf laut, Kunststoff ganz zu verbannen – und das ist in manchen Bereichen sicherlich auch mit vertretbarem Aufwand möglich. Doch hat dieses Material auch große Vorteile, was seinen Siegeszug erklärt. So wird die Glasflasche im Rucksack uns bei der Gipfelbesteigung deutlich mehr belasten – und ökologisch abbaubare Materialien haben den eingebauten Nachteil, dass sie nicht dauerhaft wasserdicht sein können.
Und genau diese Eigenschaften eröffnen eine Chance, die in dieser Form kaum ein anderes Material bieten kann. Denn die meisten gängigen Kunststoffe lassen sich, sofern sie sortenrein gesammelt werden, ohne Qualitätsverlust und mit verhältnismäßig geringem Aufwand nach der Nutzung wieder neu zu äquivalentem Rohmaterial recyceln. Mancher mag an dieser Stelle einwenden, dass wir das doch schon lange wissen – und doch ist es bisher kaum umgesetzt und das Problem wird rasant größer. Nun, genau hier müssen wir aufhören, uns selbst zu belügen, sowohl als Konsument als auch als Unternehmer. Denn in der Regel schauen wir nicht mehr hin, sobald ein Thema unser Blickfeld verlässt.
Im Prinzip ist es wie in Bali: Als Konsumenten übergeben wir täglich Dinge dem „Fluss“, der sie aus unserem Sichtfeld trägt.
So trennen die Deutschen fleißig ihren Müll, ohne sich die Frage zu stellen, wer diesen weiterverarbeitet. 85 Prozent des europäischen Kunststoffabfalls wurden so bisher via Containerschiff nach China verbracht.
Und fast die Hälfte der circa 1,3 Millionen Tonnen Bekleidung, die wir jährlich allein in Deutschland wegwerfen und von denen wir immerhin drei Viertel der Altkleidersammlung übergeben, landet in Drittländern, in denen die finale Entsorgung in der Regel entweder auf unkontrollierten Deponien oder im offene Feuer endet – ohne moderne Filteranlagen.
Auch bei Unternehmen hört in der Regel die formale Verantwortung dort auf, wo der Gesetzgeber dies definiert hat – und dies schließt in unserer globalisierten Welt selten ökologische Anforderungen in den oft weit entfernten Herstellerländern ein, ebenso wenig wie die Verantwortung für den Entsorgungsprozess, nachdem das Produkt seinen Dienst getan hat. Stattdessen versuchen viele Unternehmen, sich im Wettbewerb gegenseitig mit immer exotischeren Materialkombinationen zu übertreffen, um dem Konsumenten neue Produkteigenschaften versprechen zu können – ein Alptraum für jeden Entsorgungsprozess.
So haben wir wohl alle unseren kleinen Trump auf der Schulter sitzen, der uns versucht einzureden, dass wir eigentlich nichts tun müssen, alles richtig machen – und nur die anderen Schuld sind.
Vielleicht sollten wir allerdings doch das Addieren neu lernen. Denn die beispielsweise 23 Milliarden Paar Schuhe, die jedes Jahr produziert werden, ergeben hintereinander aufgereiht eine Strecke, die etwa 15 Mal (!) von der Erde zum Mond und zurück reicht. Eine Produktion, die neue Rohstoffe einsetzt und sich keine Gedanken über die Entsorgung nach ihrem Gebrauch macht. Dabei könnten Schuhe bereits heute zu 90 Prozent aus recycelten Materialien hergestellt werden, wie Sympatex im letzten Jahr gezeigt hat. So würden Abfallstoffe weiter sinnvoll genutzt und das Problem nicht zusätzlich vergrößert werden. Und auch Kleidungsstücke, von denen wir weltweit jährlich circa 80 Milliarden Stück herstellen lassen, könnten – wenn dies von Anfang an im Design und der Materialauswahl berücksichtigt würde – in vielen Fällen aus weitgehend einheitlichen Materialien wie Polyester hergestellt werden, sodass es problemlos werterhaltend nach Gebrauch wieder für neue Mode genutzt werden könnte.
Erst wenn wir wieder die Zahlen zusammen addieren, die beispielsweise die Bekleidungsindustrie weltweit zu verant-worten hat, wird klar, dass es nur zwei Wege gibt: rückwärts, zurück in die Höhle – oder vorwärts, in ein konsequentes Kreislauf-system der Materialnutzung, so wie es uns die Natur vormacht. Denn jedes mal, wenn wir rausgehen, zeigt sie uns, dass sie selbst keinen Abfall kennt. Join us to close the loop!
Text: Rüdiger Fox