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Tatonka kreiert Produkte für Menschen, die den Schritt in die Natur lieben. Das Unternehmen entwickelt seine Produkte im bayerischen Dasing, die Fertigung findet in einem eigenen Werk in Vietnam statt. Der Clou: Arbeitsbedingungen und Sozialstandards können von allen in Augenschein genommen werden. Die RAUS!-Werkspionage beim Familienunternehmen Tatonka.



„So, liebe Fahrgäste, auf der rechten Seite sehen Sie gleich das Holzwerk. Können es sich ja mal anschauen.“ In dem Ton eines nerdigen Miniatureisenbahners, dessen stahlgewordener Traum, eine echte Lok zu führen, gerade Realität wurde, lenken die Worte aus dem Lautsprecher der Bayerischen Regiobahn meinen Blick hinaus. Irgendwo zwischen Ingolstadt und Augsburg. Hunderte Baumstämme, ein Kürbisfeld und einige Stationen weiter stapfe ich über den bröckeligen Dasinger Bahnsteig. Die Dämmerung hüllt den abgelegenen Ort bereits ein. Von Nahverkehr, Taxi oder Leihfahrradstation keine Spur. Dann eben zu Fuß. In rund 20 Minuten gelange ich zum Headquarter des Outdoorherstellers Tatonka. Das Gebäude liegt eingerahmt von Hotel- und Fastfoodkette, Tankstelle, Maisfeld und A8.

Am nächsten Morgen falle ich vom Hotelfrühstückstisch in ein paar Schritten an die Tatonka-Klingel. Vor dem Eingang entladen Mitarbeiter gerade Messebauteile aus dem Bauch eines unternehmenseigenen Lkw. Ich schleiche mich daran vorbei, lasse den Haupteingang rechts liegen und starte meinen Besuch in der kreativen Denkzelle von Tatonka. Die Abteilung Produktentwicklung und Design mit ihren fünf Mitarbeitern sitzt in einem 100 Meter entfernten Nebengebäude. In einem weiten Raum liegen Rucksackbauteile und Zeltstoffe zwischen den Schreibtischen. „Offene Augen und Ohren“, betont Jan Loschinski, „sind das A und O bei der Neu- und Weiterentwicklung von Produkten.“ Der 50-jährige Produktentwickler spricht über die Frage, wann der Zyklus eines Produktes endet, wann es sich lohnt, es abzulösen. „Wir stehen in einem intensiven Austausch mit unseren Vertretern und Händlern, machen viele Store-Checks und Messebesuche. Daraus folgen dann unsere Angebote an unseren Vertrieb.“ In der Prototypenphase startet der Austausch mit Vietnam. Der 1989 vom damaligen Unternehmensgründer Winfried Schechinger aufgebaute und später erweiterte Fertigungsbetrieb in dem südostasiatischen Land ist eine herausragende Säule des Dasinger Unternehmens. Die rund 900 Mitarbeiter in Ho-Chi-Minh-Stadt und Quy Nhon arbeiten nach europäischen Fertigungsstandards und zu sozial verträglichen und fairen Arbeitsbedingungen. Möglich wird dies dadurch, dass das bayerische Familienunternehmen alleiniger Eigentümer dieser Stätten ist. Sie sind als Mountech Co. Ltd. registriert. Seit 2011 können Besucher das Werk wöchentlich besichtigen und die Arbeitsbedingungen oder das Herstellen beispielsweise eines Rucksacks selbst unter die Lupe nehmen. Open Factory nennt Tatonka das Projekt.

Jan, der Ende der 1990er-Jahre selbst dreieinhalb Jahre in Vietnam gelebt und den dortigen Musterraum aufgebaut hat, betont die gute Zusammenarbeit mit dem asiatischen Team. „Es hilft ungemein, mit Menschen zu arbeiten, die die Abläufe verinnerlicht haben. Das beginnt bei der Umsetzung von Zeichnung und Materialdefinition für einen Prototypen und reicht bis zur Serienfertigung“, sagt er. Dazwischen liegt ein aufwendiger Prozess. Muster werden geprüft, Nähzeiten bestimmt und daraufhin Kosten evaluiert, Anpassungen umgesetzt. „Hier entscheidet sich beispielsweise, ob ich vielleicht doch den kostenintensiveren Schaum für die Schultergurtpolsterung verwenden kann“, sagt er. Nach einem dritten Korrekturschritt beginnt der Dialog mit dem Händler über die sogenannten Salesman Samples, also jenen Mustern, die die Vertreter dem Handel präsentieren.

Ich spreche Jan auf das Thema an, das eine wachsende Zahl an Endverbrauchern interessiert: nachhaltige Produktion. Er hebt die langjährige, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Materiallieferanten hervor: „Wir setzen uns seit Anbeginn regelmäßig mit unseren Zulieferern an einen Tisch, das gehört für uns zum guten Ton. Viele von ihnen haben wir fürs Leben, einfach weil der Austausch sehr partnerschaftlich ist. Ich will in diesen Gesprächen erfahren, welche Stoffe bei der Herstellung von Materialien verwendet wurden und was drin ist. Das muss dokumentiert sein.“ Bei der Bekleidung sei Tatonka bereits seit zwei Jahren frei von poly- und perfluorierten Chemikalien (PFC). Diese fluororganischen Verbindungen haben schmutz-, wasser- und ölabweisende Wirkung und sichern somit eine hohe Leistungsfähigkeit von Outdoorprodukten. Sie reichern sich jedoch in der Umwelt und über die Nahrungskette im menschlichen Organismus an und sind nicht beziehungsweise kaum biologisch abbaubar. „Für Hartware-Produkte wie Rucksäcke sind wir in Lauerstellung, was die Industrie entwickelt. Und testen diese Alternativen aktuell“, sagt Jan.

Durch den Eingang ins Lager tauche ich in das Hauptgebäude ein. Täglich liefert ein Lkw frische Ware aus den Werken in Vietnam. Mitarbeiter schieben graue, rollbare Boxen und handelsübliche Einkaufswagen durch die Gänge und arbeiten die aus dem Innendienst kommenden Lieferscheine ab. „Die Kommissionierung läuft bei uns händisch“, kommentiert Wolfgang Rieger, Vertriebsleiter für den Innendienst. Der 51-Jährige, „Mädchen für alles“, wie er selbst sagt, ist Dreh- und Angelpunkt für alle Abteilungen von Tatonka. 
Und betont die familiäre Atmosphäre im Unternehmen. „Es ist schön, kurze Wege zu haben. Und den Tag mit einem gemeinsamen Arbeitsfrühstück zu starten. Eine Informationsquelle, die ich nicht missen möchte“, sagt er und lacht.

In der oberen Etage begegne ich am Nachmittag Thomas Daniel. In seinem Arbeitsgebiet betreut der Verkaufsleiter die Key Accounts des Unternehmens, stellt die Verkaufsstrategie auf und gibt sie an Verkäufer und Marketing weiter. Und hält, wie auch er sagt, die Augen immer auf. Um, wie er meint, he-rauszufinden, was draußen passiere, was sich bei den Händlern verkaufe, was Verbraucher heute anders machen als vielleicht noch vor zehn Jahren. „Outdoor ist ein Massenmarkt geworden. Viele Endverbraucher haben heute andere Erwartungen, Spaß statt Robustheit steht da manchmal im Vordergrund. Wir aber wollen von unserem Qualitätsanspruch an die Produkte nicht abrücken. Eine aufwendige Riegelnaht an Stressstellen eines Rucksacks werden wir nicht einsparen“, sagt er. Und ergänzt: „Dabei hilft es uns, dass wir über 30 Jahre Erfahrung durch eine eigene Fertigung haben, das Know-how seit jeher im Unternehmen entsteht und verbleibt.“

Zum Abschluss entdecke ich in der hintersten Ecke des oberen Lagers einen abgetrennten Bereich, in dem sich die Service- und Reparaturabteilung befindet. Gary Hassall und Ottilie Egger arbeiten hier an den Reparaturen von eingesendeten Produkten. „Reißverschlüsse erneuern, Zeltkanäle flicken, Steckschnallen neu einnähen. Nur sonnengebleichte Stoffe können wir nicht eins zu eins ersetzen“, sagt Gary und lacht. Das eine oder andere Teil aus der Anfangszeit von Tatonka lande auf ihren Nähtischen. Mit der Bitte um lebensverlängernde Maßnahmen.

In der Bahn hinter Dasing bleiben die Lautsprecher am Abend stumm. Der Zugführer hält sich diesmal bedeckt. Ist auch nicht nötig, denke ich mir. Die Highlights entlang der Strecke kenne ich ja bereits.

Meilensteine Tatonka
1981: Gründung Mountain Sport GmbH durch Winfried Schechinger.
1989: Aufbau der ersten Produktionsstätte in Vietnam (250 Mitarbeiter). Bau und Umzug in das eigene Firmengebäude in Dasing (zehn Mitarbeiter).
1991: Umzug der Produktionsstätte in Vietnam (450 Mitarbeiter).
1993: Eintragung und Registrierung der Mountech Co. Ltd. in Vietnam; Eintragung des Markennamens Tatonka.
1995: Ausbau und Erweiterung der Mountech Co. Ltd. in Vietnam.
1996: Aufbau eines zweiten Werks in Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam. Erweiterung der Produktionskapazität (950 Mitarbeiter).
1997: Aufbau einer eigenen Edelstahlfabrik in Vietnam. Erweiterung des Firmengebäudes in Dasing auf 2.000 Quadratmeter Lager- und 318 Quadratmeter Bürofläche.
1999: Vergrößerung der Lagerfläche in Dasing durch ein zusätzliches Außenlager von 1.100 Quadratmetern.
2004: Winfried Schechinger übergibt die Geschäftsleitung an seinen Sohn Andreas Schechinger.
2009: Mountech Co. Ltd. feiert 20-jähriges Bestehen.
2010: Tatonka präsentiert das Projekt Open Factory.
2011: Mountech Co. Ltd. wird nach dem SA8000-Standard zertifiziert.
2013: Die Marke Tatonka feiert 20-jähriges Bestehen.
2017: Erweiterung der Produktionsstätte in Quy Nhon.

7 Fragen an Andreas Schechinger Leiter und Geschäftsführer Tatonka GmbH

 

Hallo Herr Schechinger, Sie waren als Sohn des Gründers schon früh im Unternehmen. An welche Anekdote aus der Anfangszeit von Tatonka erinnern Sie sich gern?
Als wir uns 1993 dazu entschieden, den Markennamen Tatonka eintragen zu lassen, war das eine Harakiri-Aktion. In unserer naiven Art gingen wir zum Patentanwalt in München und übergaben ihm Namen und Logo für die Eintragung. Auf seine Frage, ab wann wir das benutzen wollen, antworteten wir perplex, ab heute natürlich, die Produktion stickt den neuen Namen schon drauf! Er lachte nur und sagte, normalerweise muss man zwischen fünf und zehn Jahren warten, um sicher zu gehen, dass es keine Rechteprobleme geben wird (lacht). Wir zogen es dennoch durch. Hat zum Glück funktioniert.

Sie kommen gerade aus dem unternehmenseigenen Werk in Vietnam, welche aktuellen Themen bewegen Sie dort zurzeit?
Wir erweitern aktuell unsere Produktionsstätte im zentralvietnamesischen Quy Nhon um eine weitere Fabrikhalle. Mittelfristig werden wir bis 2021 unseren Standort in Ho-Chi-Minh-Stadt komplett in den 650 Kilometer weiter nördlich gelegenen Ort verlagern. In Ho-Chi-Minh-Stadt sind wir seit 1989, aber dort zu produzieren, ist nicht mehr haltbar. Damals waren wir am Rande der Stadt, jetzt sind wir mittendrin. Um uns herum entstehen Kaufhäuser, Hochhäuser, Universitäten, das ist kein Ort mehr für eine Fertigung.

Die Mitarbeiter ziehen mit?
Ein Teil des Managements sowie ein paar Leiter aus der Produktion werden mit nach Quy Nhon gehen. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigen wir seit Anfang der 1990er-Jahre, von ihnen werden viele dann in den Ruhestand gehen.

Welche Motivation steckt hinter Open Factory?
Wir haben Händlern und anderen Interessierten schon immer die Möglichkeit gegeben, bei uns ins Werk zu schauen und zu erleben, wie wir arbeiten. Und wie beispielsweise ein Rucksack entsteht. Das ist komplexer, als viele denken, und wenn du die vielen Prozesse siehst, kannst du das besser einschätzen. Unser Thema war schon früh, uns transparent nach außen darzustellen. Uns gehört die Produktionsstätte, wir sind ein Familienunternehmen – da dachten wir, es ist das Einfachste, den Menschen generell Zugang zu gewähren.

Wer besucht das Werk?
Verschiedenste Leute – vom Backpacker bis hin zu Wirtschaftsdelegationen aus Deutschland. Wir hatten sogar schon Kardinal Reinhard Marx bei uns. Wir haben aber auch viele asiatische Studentengruppen, die das Thema soziale und nachhaltige Produktion interessiert. Es gibt in Südostasien viele Studiengänge zu diesen Themen und wir bieten mit dem Werk einen Ort, an dem man deren Umsetzung in der Praxis erforschen kann.

Wie unterscheiden Sie sich mit ihrem Werk zu anderen Produktionen in Südostasien?
Wir können direkt beeinflussen, wie wir Sozialstandards einführen. Die Dinge laufen auf einer sehr persönlichen Ebene ab. Viele, vor allem größere Hersteller haben andere Strukturen als wir als Familienunternehmen. Sie arbeiten oftmals mit mehreren externen Produktionspartnern zusammen. Meine Kollegen in anderen Unternehmen gehen daher vielfach den Weg über Organisationen wie die Fair Wear Foundation, um mit einem externen Sozialstandard auf ihre Lieferanten zuzugehen. Auch das funktioniert gut. Wir sind in gemeinsamen Arbeitsgruppen zu diesen Themen in der Fachgruppe Outdoor und der European Outdoor Group organisiert und in einem ständigen Dialog.

Was schätzen Sie an der Arbeit in einem mittelständischen Familienunternehmen?
Wir können aufgrund unserer Struktur flexibel und schnell reagieren. Zudem sind viele Positionen mit wenigen Personen besetzt, die übergreifendes Wissen haben. Ich mag es, dass wir uns untereinander alle kennen, das ist etwas Besonderes. Und dann schätze ich, dass wir trotz unserer kleineren finanziellen Rahmenmöglichkeiten mit Themen der Nachhaltigkeit mithalten können, auch mit größeren Unternehmen. Das, was wir leisten, ist bei unserer Betriebsgröße bereits fast maximal. Aber man muss kämpfen und am Ball bleiben, in allen Bereichen.

Text // Benjamin Hellwig
Fotos // Tatonka und Benjamin Hellwig